Lüdenscheid, Erlöserkirche

Albert Baumhoer (III-42), 2018

 

Die neue Orgel (III-41) in der Erlöserkirche Lüdenscheid

von Peter Ewers

Orgelbaumeister Albert Baumhoer, Salzkotten-Thüle errichtete nach 22 monatiger Bauzeit im November 2018 einen Orgelneubau mit 42 Registern auf drei Manualen und Pedal für die Erlöserkirche in Lüdenscheid. Das Konzertinstrument wurde vollständig durch eine Bürgerstiftung finanziert und feierlich seiner Bestimmung am 4. November 2018 übergeben.

Die heutige Kreisstadt Lüdenscheid liegt im Nordwesten des Sauerlandes in Nordrhein-Westfalen und wird um 800 erstmalig urkundlich erwähnt. Begünstigt durch ihre hügelige Lage und der Stauung kleinerer Gewässer, entwickelt sich früh eine Eisengewinnung und -verarbeitung. 1268 erhält der Weiler Stadtrechte. 1517 kommt es zum Aufruhr der Bevölkerung und Landfriedensbruch, weil Gewässerwehre des Hammerwerkes erhöht und so den Fischfang in den Staugewässern stark einschränkten, der Nahrungsquelle der Bevölkerung. Die Lüdenscheider setzten sich gegen ihre Obrigkeit durch und die Hammerwerke wurden zurückgebaut. 1578 beginnt die Reformation in der bisher zum Bistum Köln gehörigen Stadt. Ab 1815 zur Provinz Westfalen gehörend, wird Lüdenscheid 1907 kreisfreie Stadt und 1975 zur Kreisstadt des neugeschaffenen Märkischen Kreises.

Die zum ersten Mal 1067 urkundlich erwähnte Erlöserkirche, wird 1200 zur zweijochigen Pfeilerbasilika erweitert und erhält im 14. Jahrhundert einen gotischen Chor mit Strebepfeilern, deren Reste (gebuste Kreuzkuppelgewölbe) im noch vorhandenen massiven Turm der heutigen Kirche vorhanden sind.

1822 wird die baufällige Kirche abgetragen und 1826 die jetzige Kirche eingeweiht, als klassizistischer fünfjochiger Saalbau mit Holztonnendecke, die auf starken Wandvorlagen ruht.

In das Kirchenschiff ragen heute zwei mächtige Seitenemporen mit je 200 Sitzplätzen, die im Rücken des Kirchenbesuchers miteinander verbunden sind und dort, im Eingangsbereich, auf Metallsäulen ruhen. Darüber befand sich die eigentliche Orgelempore, die ca. 2/3 der Grundfläche des rückwärtigen Bereichs der darunter liegenden Emporen überragte und den hinteren Kirchenraum stark verdunkelte.

Frühere Instrumente

Auf dieser Orgelempore wurde 1825 die aus der Vorgängerkirche stammende und dort 1800 errichtete Orgel aus der Werkstatt Klein, Gummersbach (II-35) durch Daniel Nötzel aus Olpe bei Derschlag eingebaut.[1] Der mit Putten im Rokokostil reich verzierte Prospekt[2] wird aufgrund Schenkung einer neuen Orgel 1898[3] eingelagert, geht aber später verloren.

Um für das neue Instrument ausreichend Platz zu schaffen und den Kirchenraum aufhellen zu können, hat die alte Orgelempore ausgedient. Sie wird entfernt und hinterläßt einen schräg verlaufenden Höhenversatz im Verbund von Metallsäulen und Mauerwerk von gut 1,80 m, der bis heute jene bautechnisch-konstruktive Klippe für die Traktur darstellt.

Die Akustik der Kirche ist warm, bedingt durch den Einbau der Emporen und besagter Holztonnendecke mit einer mittleren Nachhallzeit von 2,5 s gleichmäßig in allen Frequenzbändern absorbierend und angenehm transparent. Anders ausgedrückt: Hier hört man alles!

Das Instrument von 1898 aus der Werkstatt Wilhelm Sauer

Das historische Foto[4], entstanden nach 1917, zeigt den um seine Prospektpfeifen beraubten Orgelprospekt der Sauer-Orgel auf der seit 1898 veränderten Empore. Die Orgel verfügt über einen freistehenden Spieltisch mit Blickrichtung zum Altar und der Dirigent findet Platz in einer Kanzel, die an die Empore angehangen ist.

1954 wird das Instrument elektrifiziert und erhält einen neuen Spieltisch[5]. Das Instrument aus der Werkstatt Wilhelm Sauer (gegründet 1838) verfügt über 36 Register auf drei Manualen, bei pneumatischer Spiel- und Registertraktur.

Wilhelm Sauer verbrachte 1851-53 seine Wanderjahre im Orgelbau unter anderem bei Aristide Cavaillé-Coll, Paris und Eberhard Friedrich Walcker in Ludwigsburg. Wurden ihm zunächst Orgelbauaufträge in Berlin wegen „Französelei“ abgelehnt, baut er ab 1864 schließlich doch in der Hauptstadt. 1867 schließt sich ein erneuter Studienaufenthalt bei Cavaillé-Coll in Paris an. Sauer beschäftigt sich intensiv mit den Partialtönen und setzt diese Erkenntnisse auch praktisch um, z.B. in seinem Opus 125, der Orgel für die Nikolaikirche Berlin, in deren Pedal er eigenständige Register Quinte 5 1/3‘, Terz 3 1/5‘ und Septime 2 2/7‘ baut. Trakturtechnisch wendet sich Sauer seit 1892 immer mehr von der mechanischen Kegellade ab und stattet alle Instrumente mit einer vollständig pneumatischen Spiel- und Registertraktur aus. Vermutlich verfügt die Orgel der Erlöserkirche auch über die von Sauer patentierte „Combinationsvorrichtung an Registerzügen“.

Was zwei Weltkriege mit den Reparationslieferungen der Prospektpfeifen für die Kriegsrüstung unter Kaiser Wilhelm II. und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft dem Sauer-Instrument nicht anhaben konnten, das ver-wirkt ein Umbau 1953 und nachfolgende Translozierung des Instruments 1964 in die Kreuzkirche Lüdenscheid. Die Hälfte des Sauerschen Pfeifenmaterials und das Gehäuse kommen nur 66 Jahre (!) nach ihrer Stiftung abhanden.

In der Erlöserkirche wird 1968 das Nachfolgeinstrument aus der Werkstatt Alfred Führer mit 42 Registern auf drei Manualen und Pedal in Dienst gestellt.[6] Im Januar 2014 wird es aufgrund massiver Brandgefahr durch die marode Elektrik (freiliegende offene Verkabelung, Schmorgefahr durch fehlende Endabschaltung der Schleifenzugmotoren etc.) brandpolizeilich mit sofortiger Wirkung stillgelegt und 2015 nach Polen verkauft.

Neubau des symphonischen Instruments

Die verwaiste Orgelempore offenbarte erneut jene konstruktiv-räumliche Engstelle, die aus dem Abbruch der Orgelempore 1898 resultierte. Auf einer Länge von 1,80 m muß die Traktur schräg einen Höhenunterschied von 1,50 m überwinden.

Die Position des rund 480 kg schweren Spieltischs, wurde oberhalb jener Schräge gewählt, um diese nicht selbst weiter belasten zu müssen, sondern vielmehr werden durch einen Stahlrahmen die Hebelkräfte abgefangen und mittels Stahlanker an die frühere Aussenwand des massiven Turmes, mit seiner an dieser Stelle rund 1 m dic­ken Mauer, abgegeben. Auch die historischen Metallsäulen werden weiter genutzt. Die Vorteile dieser Position liegen auf der Hand: Die Trakturlänge über die Schräge wird reduziert und der Spieltisch hat eine Höhe im Verhältnis zur übrigen Empore, die diesen nicht kanzelartig hoch über die Choristen trohnen läßt oder etwa in einem Spieltischgraben versteckt.

Heute liegt der Spieltisch nur wenig tiefer, mit Blickrichtung zum Prospekt, mittig vor dem gut knapp 1 m entfernten Prospekt des Instruments und schafft so perfekte Abhörmöglichkeiten für den Interpreten, bei guter Sicht des Chores auf Interpreten oder dahinter stehendem Dirigenten.

Prospekt und Position der Windladen

Die Prospektgestaltung orientierte sich am historischen Sauer-Prospekt:

Der Unterbau erhielt Türen für leichte Zugänglichkeit und im oberen Bereich Lüftungs- und Schallöffnungsgitter, die auch bei Aufstellung des Chores eine Klangabstrahlung über den Chor hinweg zum Interpreten hin ermöglichen.

Auf dieser unteren Ebene befinden sich die beiden in C- und Cis-Seite getrennten Pedalladen[7]. Die ersten 12 Töne des Bourdon 32‘ stehen ebenerdig in C- und Cis-Seite getrennt hinten an der Gehäuserückwand und sind an dem eckverzinkten oberen Lagerrahmen eingehangen.

In der Mitte steht die kompakte[8] Windlade des Positif-Expressif (2. Manual C-c4) mit 11 Registern. Die Tiefe des Orgelgehäuses ist durch die Empore begrenzt und zwangsläufig trägt die Länge der Windlade dem Rechnung.

Ein auf dem Untergehäuse liegender Lagerrahmen trägt die Windladen des Grand-Orgue (C-c4) und das Obergehäuse samt den nach vorn überkragenden fünf­achsigen Prospekt.

Das große Mittelfeld, von der Mitte her zur C-Seite enthält Pedalpfeifen des Registers Flûte 16‘, zur Cis-Seite hin Pfeifen des Registers Montre 8‘ aus I. Manual (Grand-Orgue), angesteuert durch eigene Prospektladen. Die Außenfelder enthalten Pfeifen mit entsprechenden Überlängen.

Die auf mittlerer Höhe stehenden Windladen des I. Manual (Grand-Orgue) mit 11 Registern erhielten von C – fis° Doppelventile (mechanisch und elektrisch, quasi als Ersatz der Moteur pneumatique) und durchbohrte Kanzellenschiede. Die Kanzellen wurden in der Basslage (C – h°) zusätzlich durch eingeleimte Schrägschiede verjüngt, um einen schnelleren Druckauf – bzw. -abbau zu erhalten, der eine günstigere An- und Absprache der großen Pfeifen (besonders der anches und gambes) ermöglicht.

Auf der gleichen Ebene finden sich zwei Schleifladen für das III. Manual (Récit-Expressif (C-c4); eine für sechs Register, die andere Lade für fünf Register.

Die erste Lade enthält eine separate Lade mit Einzeltonmagneten zur Ansteuerung der Register Basses de Basson 16‘ (C-H) und Hautbois 8‘ (C-g4, 73 Töne). Die Register- und Oktavschaltung der elektrisch angesteuerten Tonventile erfolgt im Spieltisch. Diese Lade steht erhöht vor der eigentlichen Schleiflade.

Eine baugleiche Lade für Cromorne 16‘ und Cromorne 8‘ steht im Positif-Expressif gestürzt, in C- und Cis-Seite.

Die bei Cavaillé-Coll vorhandene Trennung der Register eines Werks auf zwei Laden, den Jeux de fonds auf der einen Seite und Jeux de combinaison auf der anderen Seite stand hier Pate. Von einem Stimmgang aus sind jetzt zu beiden Seiten je zwei Zungen gut zu erreichen und beide Schleifladen garantieren optimale Windversorgung.

Spieltisch nach Cavaillé-Coll

Besonderes Schmuckstück des neuen Instruments ist der Spieltisch nach Cavaillé-Coll, in dessen individuelle Planung besonders die Erfordernisse von Literatur und Improvisation eingeflossen sind. In klassischer Terrassenform wurden die Manubrien links und rechts neben den Manualen angeordnet, wobei Register der 16‘ und 8‘-Lage links erscheinen, die Register ab 4‘-Lage, Aliquoten und Zungen rechts.

Es ist immer wieder erstaunlich wie aufgeräumt ein Spieltisch nach Cavaillé-Coll wirkt. Jeder findet sich sofort zurecht. Das ist auch erforderlich, denn das Instrument lockt die Aufmerksamkeit des Interpreten rasch zu einer, für unsere Orgellandschaften höchst bemerkenswerten, festen Teilung des Pedals, einem Pédale coupure prédéfinie.

Der Spieltisch nach historischem Vorbild erfuhr hier eine notwendige Weiterentwicklung, die so praktikabel und sinnfällig zu sein hat, daß sie schon rasch dem Interpreten in Hand und Fuß übergeht.

Wie gewohnt wird mit dem gedrechselten und beschrifteten Manubrium das Register für das gesamte Pedal gezogen. Getreu der französisch-symphonischen Tradition, beginnt der Spaß mit einem Tritt (Pédale coupure), der diese Funktion eines geteilten Pedals aktiviert: Die große Oktave des Pedals C-H wird zwar mit dem Manubrium gezogen, aber der Diskant des Pedals bleibt stumm. Um ein Pedalregister für den Diskant ziehen zu können, so ist allein der innenbeleuchtete Knopf neben dem Manubrium entscheidend.[9]

Die Eingewöhnungszeit für das geteilte Pedal mittels dieser einfachen, wie übersichtlichen Schaltung ist zwar kurz und man fühlt sich auch sofort an die Hausorgel Marcel Duprés in Meudon oder den alten Cochereau-Spieltisch in Notre-Dame, Paris erinnert. Aber eine Pedalteilung satztechnisch für Gottesdienst und Improvisationen nutzen zu können, das ist schon eine ganz andere Herausforderung, die aber auch Welten eröffnet.[10]

Wie schön, daß auch für diese anspruchsvolle Funktion in Lüdenscheid auf das Anbringen einer Setzerschublade verzichtet werden konnte, wie übrigens auch alle Manualvorschlagbretter frei blieben von weiteren Sequenzer-, Gruppenschaltern etc. Dieser Spieltisch mit seinen beiden Schwelltritten, die mittels Fußspitze selbst bei gleichzeitig bespieltem Pedal geschlossen werden können, wirkt aufgeräumt und klar.[11]

Um das Pédale coupure prédéfinie realisieren zu können, nutzte Baumhoer für die Pedalladen das System der pneumatisch gesteuerten Kastenlade nach Röver (Abstromprinzip) mit interner Registersteuerung[12] durch Relaisansteuerung (24 Volt).

Alle Windladen wurden so aufgerissen, daß die Zungenregister wegen der besseren Ansprache über dem Tonventil stehen. Jede Lade erhielt einen Ausgleichsbalg zur

Windruckregulierung und ein druckneutrales Regelventil.

Spieltraktur

Für die Spieltrakturen (Holzabstrakten, Holzwinkel) der drei Manuale wählte Baumhoer einen Weg, der sich eng an das historische Vorbild Aristide Cavaillé-Coll anlehnt. Hatte dieser bei Werken ab 20 Register häufig eine Barkermaschine für das Grand-Orgue gebaut, um die Tastendrücke handhabbar werden zu lassen, so konstruierte Baumhoer die Teilwerke (Tastenumfänge C – c4) der französisch-symponischen Konzertorgel in Lüdenscheid mit rein mechanischer Spieltraktur. Die Suboktavkoppeln jedoch und die ersten fünf Töne der großen Oktave greifen auf eine elektrische Traktur zurück, ganz so, wie wenn eine Koppel sur le machine Barker du Grand-Orgue einer Cavaillé-Coll helfend zur Hand geht, um die enormen Winddrücke der mit Registern der 16‘ und 8‘-Lage reich bestückten Manuale zu bewältigen. Die selbstregulierende Mechanik mit optoelektronischen Kontakten (für die Koppeln) nutzt das gewünschte präzise Spielgefühl der mechanischen Traktur geschickt aus.

Gebläse und Windkanäle

Zur Winderzeugung wird ein Ventus-Langsamläufer mit 43 m3-Schöpfvolumen in der Minute bei 120 mm WS herangezogen, der die kostbare Fracht in einen mächtigen Doppelfaltenbalg (nach Cummings) befördert, der im historischen Turmgeschoß, dem vermutlich ältesten Gebäude Lüdenscheids aufgestellt wurde.

Die Konstruktion des Doppelfaltenbalgs mit Rahmen und Füllungen, Gelenken aus Darmschnüren und Ziegenpergament, Eckzwickel aus dickem weißen Schafsleder erhielt zur Faltenführung vier geschwärzte Eisenscheren, streng nach dem historischen Vorbild Cummings, daß durch Cavaillé-Coll weiterentwickelt und hier in Lüdenscheid angewendet wurde. Als Gegengewicht dienen Backsteine[13] auf dem gut 1,70 x 3 m großen Balg.[14]

Pfeifenwerk und Mensuration

Die Mensuration des Pfeifenwerks nach Aristide Cavaille-Coll[15] folgte historischen Vorbildern. Orgelbaumeister Baumhoer und Intonateur Kilian Gottwald, Marburg[16] entwickelten dabei eine für den Raum zutreffende Klangvorstellung, die sich an späten Instrumenten Cavaillé-Colls[17] orientiert. Gravität und Kraft nicht missend, stehen delikate Klangfarben und prononcierte Einzelstimmen zur Verfügung, die keinesfalls vordergründig und niemals erdrückend, sondern vielmehr höchst subtil das Raffinement der expressiv-symphonischen Klangsverschmelzung (zwei Schwellwerke!) auszudrücken suchen. Die Klangfarben von Bourdon 32‘,[18] Voix céleste, der Unda maris, des Cromorne, der Trompete harmonique und eine hohe Anzahl an überblasenden Flöten sind Kennzeichen von Cavaillé-Coll und wurden hier in Lüdenscheid immer im Hinblick auf französische Noblesse und Zurückhaltung geschaffen.

Aus diesem Grund liegt das Plein-Jeu des Grand-Orgue eher in der Mitte, es beginnt mit einem 2‘ und stattet so den Klang des Grand-Choeur mit entsprechendem Glanz aus.

Repetition des Plein jeu 5rangs aus Grand-Orgue

C 2 1 1/3 1 2/3 1/2

c° 2 2/3 2 1 1/3 1 2/3

c‘ 4 2 2/3 2 1 1/3 1

c² 8 4 2 2/3 2 1 1/3

c³ 8 4 2 2/3 2 2

Auf diese Weise wurde der durchlaufende 2‘ als Vorabzug Doublette 2‘ separat spielbar.

Das Récit-Expressif erhielt in Lüdenscheid die tiefer liegende Mixtur, beginnend mit 2 2/3‘, die dem Récit-Expressif auf diese Weise auch den sonst fehlenden Principalchor hinzufügte.[19]

Repetition des Plein jeu 4rangs aus Récit-Expressif

C 2 2/3 2 1 1/3 1

f° 4 2 2/3 2 1 1/3

c² 5 1/3 4 2 2/3 2

c³ 8 5 1/3 4 2 2/3

Für das Pfeifenwerk wurde in den tiefen Lagen Holz verwendet, was im Falle der Gedackten oder Flöten (auch bei voller Länge) dem Orgelklang Stabilität und Wärme zufügt.[20]

Die Legierung der Labialpfeifen folgte den historischen Vorbildern bei Cavaillé-Coll. Intonateur und Orgelbaumeister Kilian Gottwald verfügt über zwei Jahrzehnte Erfahrung in der Intonation auch großer symphonischer Instrumente, die er in Lüdenscheid sehr zum Vorteil eines runden und gesättigten Klangs nutzte. Zur Klanglichkeit hier nur einige wenige Details: Alle Pfeifen des Prinzipal wurden mit Expressionen gearbeitet, um in der Intonation Klarheit zu ermöglichen.

Das Cor de nuit 8‘ im II. Manual (Positif-Expressif) wurde weit und füllig, im Discant schlank, elegant für Begleitzwecke und so zum perfektem Gegenspieler des Montre 8‘. Zusammen ergeben beide Register ein rundes und volles Bild. Der im III. Manual Récit-Expressif disponierte Bourdon 8‘ kann im Discant zum unmerklichen Einfärben der Gambes und Anches gebraucht werden. Der im II. Manual (Positif-Expressif) disponierte 2′ wurde im Baß deutlich und klar zur Doublette und im Discant eher zu einer klassischen Quarte de Nasard. Die gebauten Mixtures im Grand-Orgue enthält einen Auszug, der weit mensuriert ist, sich aber dennoch gut und ohne jede Schärfe in die Hauptwerksmixtur mischt. Die Flûte 16′ im Pédale mischt sich mit dem 32′ zu einem vollen, warmen Pedalklang.

Die Jeux de fonds

Die von Gottwald intonierten Pfeifen treffen ihren Arbeitspunkt beeindruckend genau. Seine Intonation greift dabei auf eine durch die ursprüngliche Rundierung entstandene Wölbung des Oberlabiums zurück, ohne diese z.B. durch eine stärkere Ausreibung im Hinblick auf den vorderen Flächenstrom des geteilten Windbandes zu sehr lenken zu wollen. Das quasi naturbelassene Windband wird von Gottwald vielmehr so auf das Oberlabium gelenkt, daß der Ton niemals gezwungen, sondern stets frei anspricht. Insbesondere die von ihm sehr geschätzten Gambes erhalten durch seine Art der Intonation eine Frische und Güte in der Ansprache, die jedem romantisch-übersättigtem Klangdumpf auch das ein oder andere „Kratzerchen“ mutig entgegenzustellen beabsichtigt, was der gewünschten Individualität des Registerklangs natürlich sofort zugute kommt: Diese Orgel singt!

Jeu d‘Anches

Ist das Vorbild Aristide Cavaillé-Coll schon für die Labialstimmen hilfreich, so ist es bei den Zungenstimmen in ihrer typischen Bauweise der Trennung von Ring und Nuß ein wahres Geschenk. Die Akustik der Erlöserkirche verlangte allerdings eine besondere Aufmerksamkeit bei der Einbindung der Anches in den Gesamtklang, was ohne verfälschende Modifikationen des Mensursystems gelang. Man erlaubte sich hier lediglich die Verwendung von Stimmkrücken mit Knick (sogenannte deutsche Bauweise). Die belederten Kehlen der Bombarde 16‘ wurden aus klanglichen Gründen zylindrisch ausgeführt, die nun dem Plenum sonore Gravität hinzufügt, ohne ausfällig und penetrant zu werden. Details am Rande sorgen für erwünschten Schmelz und charakteristische Provenienz: So kann auch das Cromorne 8‘ solistisch genutzt werden, ohne es dazu mit einer labialen 8‘-Schwester anreichern zu müssen. Die Trompette harmonique 8‘ des III. Manual (Récit-Expressif) ist kernig und im Verbund mit Basses de Basson 16‘ und Clairon harmonique 4‘ Garant für jene Mystik eines sich unmerklich aus dem Nichts entwickelnden symphonischen Crescendos, das auch im Tutti der Orgel noch deutlich wahrnehmbar ist. Dem huldigt auch das vierfache Plein-Jeu auf 2 2/3‘-Basis des Récit-Expressif, welches tiefer einsetzt als das 4-5 fache Plein-Jeu auf 2‘-Basis aus I. Manual (Grand-Orgue).

Keine ganz einfache Aufgabe in diesem Raum, aber der Spagat scheint Intonateur Kilian Gottwald gelungen bei diesem Instrument, was nun für Konzert und Gottesdienst neue Impulse zu setzen vermag.

Disposition der Baumhoer-Orgel (III-41), 2018
in der Erlöserkirche, Lüdenscheid

I. Manual (Grand-Orgue) C – c4, 61 Töne

1. Bourdon 16‘

2. Montre 8‘

3. Flûte harmonique 8‘

4. Viole de Gambe 8‘

5. Bourdon 8‘

6. Prestant 4‘

7. Flûte creuse 4‘

8. Doublette 2‘

(aus Plein Jeu)

9. Cornet V rangs

10. Plein Jeu IV-V rangs

11. Trompette 8‘

12. Basses de Basson 16‘

(Transmission aus Récit)

II. Manual (Positif-expressif) C – c4, 61 Töne

1. Principal 8‘

2. Salicional 8‘

3. Unda maris 8‘

4. Cor de nuit 8‘

5. Fugara 4‘

6. Flûte à cheminée 4‘

7. Nasard 2 2/3‘

8. Doublette 2‘

9. Tierce 1 3/5‘

10. Larigot 1 1/3′

11. Basses de Cromorne 16′

(C-H, ab c zusammen mit Cromorne 8′)

12. Cromorne 8′

Tremblant

III. Manual (Récit-expressif) C – c4, 61 Töne

1. Quintaton 16′

2. Flûte traversière 8′

3. Bourdon 8′

4. Gambe 8′

5. Voix céleste 8′

6. Flûte octaviante 4′

7. Basson-Hautbois 8′

8. Voix humaine 8′

9. Octavin 2′

10. Plein Jeu IV rangs

11. Basses de Basson 16′

(halbe Becherlänge, C-H,

ab c zusammen mit Basson-Hautbois 8′)

12. Trompette harmonique 8′

13. Clairon harmonique 4′

Tremblant

Pédale (Bass C-H, Discant c-g‘), 32 Töne

1. Bourdon 32′

2. Soubasse 16′

3. Flûte 16′

4. Bourdon 8‘

5. Flûte 8′

6. Flûte 4′

7. Bombarde 16′

8. Trompette 8′

9. Cromorne 8′

(Transmission aus Pos.)

10. Cromorne 4′

(Transmission aus Pos.)

11. Cromorne 2′

(Transmission aus Pos.)

Pédales de Combinaison

1. Tirasse Grand-Orgue (I-P)

2. Tirasse Positif-Expressif (II-P)

3. Tirasse Récit-Expressif (III-P)

4. Copula Récit-Expressif sur Grand-Orgue (III-I)

5. Copula Positif-Expressif sur Grand-Orgue (II-I)

6. Copula Récit-Expressif sur Positif-Expressif (III-II)

Tremblant Positif-Expressif

Tremblant Récit-Expressif

Pédale coupure prédéfinie H-c

Setzeranlage

Disposition, Konzeption, Mensuration:

Dmitri Grigoriev, Peter Ewers, Kilian Gottwald

nach Vorlagen bei Aristide Cavaillé-Coll (1811-1899)

Intonation: Kilian Gottwald

Landeskirchlicher Orgelsachverständiger: Martin Rieker

Planung, Gesamtleitung: Albert Baumhoer

Mitarbeiter: Birgit Baumhoer, Dirk Dreps, Jürgen Descher, Matz Ringleb

Finanzierung: Stiftung Altstadtorgel, Lüdenscheid

  1. Proebsting, Wilhelm: Die Erlöserkirche im letzten Jahrhundert. Festschrift zum 26. März 1826 (Wiedereinweihung der Kirche), Lüdenscheid, 16. Proebsting erwähnt das mit 16 Registern reich besetzte 1. Manual, 13 Register auf dem 2. Manual und 6 Pedalregister.

  2. Anzeige vom 18. Januar 1898 in „Lüdenscheider Nachrichten“: „Da unsere Kirchenorgel infolge der Aufstellung einer neuen uns geschenkten Orgel überflüssig wird, beabsichtigen wir dieselbe zu verkaufen. Es ist ein Werk von 36 Registern, noch wohl erhalten und mit vorzüglichem Prospekt in altem Eichenholz und künstlerisch schöner Ansicht. (…)“. Ob seit der Wiederaufstellung durch Nötzel ein weiteres Register hinzugefügt wurde oder jetzt zum Verkauf ein Vorabzug als eigenes Register gezählt wurde, kann nicht rückgeschlossen werden. In Proebstings Festschrift wird nur erwähnt, daß „diese bei der Aufstellung der neuen Orgel 1898 sorgfältigst geschonten Verzierungen, ebenso wie ein Teil der kleinen Registerpfeifen aus reinem Zinn, die im Ev. Vereinshaus aufbewahrt wurden, durch die Untreue eines früheren Hausvaters verloren gegangen sind. Es bestand damals die Absicht, sie für eine kleine Saalorgel im Ev. Vereinshaus wieder zu verwenden.“, ebd. 16

  3. Die Schenkung einer 36-Register-Orgel an die Ev. Kirchengemeinde geht auf die Witwe des Lüdenscheider Metallknopffabrikanten Leonhard Ritzel zurück, der sich zu Lebzeiten mit der Produktion von Knöpfen, Haken, Scharnieren, Beschlägen, Griffen und Türklinken ein Vermögen erarbeitet hatte. Unternehmerkollege Noelle (Herstellung von Besteck, Teller, Kaffeegeschirre, Haushaltswaren und Leuchten [vgl. Lüdenscheid als „Stadt des Lichts“: Elektrifizierung 1886, Beginn der Produktion von Elektroartikeln bei der Firma Busch-Jäger-Elektro 1887] stiftete 1898 ein neues Gestühl für die Kirche. 1895 ist Lüdenscheid die am stärksten industrialisierte Stadt des Deutschen Reichs, vor allem durch die aufkommende Elektroindustrie, Metallfassungen für Glühbirnen und Aluminiumverarbeitung [Herstellung der ersten beiden Luftschiffe „Zeppelin“, 1898/99] und hat noch 1913 die höchste Dichte an Vermögensmillionären aller Städte im Deutschen Reich.

  4. § 1 der Bundesratsverordnung über die Sicherstellung von Kriegsbedarf vom 24. Juni 1915 sieht eine Abgabe der Orgelpfeifen aus Zinn vor. Bestandserhebung und Ablieferung an die „Metallmobilmachungsstellen“ beginnen im Deutschen Reich im Januar 1917.

  5. Dieser Spieltisch befindet sich heute in der Kreuzkirche, Lüdenscheid.

  6. Disposition von Eberhard Eßrich (1913-2010), von 1963-1978 Kantor der Erlöserkirche, früher Schüler von Straube und Johann Nepomuk David am Leipziger Konservatorium, kurzzeitig Organist am Merseburger Dom, von 1946-1963 Organist der Pauluskirche in Bielefeld.

  7. Orgelbaumeister Baumhoer hat sich in früheren Instrumenten der deutsch-romantischen Epoche einen Namen gemacht bei der Restauration von Kastenladen (nach Wilhelm Rühlmann oder Ernst Röver). So verfügte Baumhoer über das Spezialwissen dieser zu Unrecht völlig in Vergessenheit geratenen Kastenlade nach Röver (Abstromprinzip), die er beim Neubau in Lüdenscheid nun geschickt für das Pédale coupure prédéfinie nutzen konnte. Die Kastenlade arbeitet präzise, völlig geräuschlos und wartungsfrei und ist, rein konstruktiv, den von Cavaillé-Coll für die tiefen Lagen des Pedals häufig verwendeten Moteur pneumatique ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen.

  8. Baumhoer nutzt in der hohen Diskantlage eine schon an früheren Instrumenten (vgl. Baumhoer-Orgel im Stile einer Chororgel nach Aristide Cavaillé-Coll in Bielefeld-Stieghorst (II-11), 2006 bzw. Orgel nach Ernst Röver (II-39), Christuskirche Hamburg-Pinneberg) verwendete und von ihm dahingehend weiterentwickelte, sehr kompakte Aufstellung der Pfeifen in Dreiergruppen, die sich durch beste Verschmelzung im Klang bei verringertem Raumbedarf auszeichnet. Durch die enge Teilung bei nur 25 mm Schleifengang im Baß entsteht auf diese Weise für den Diskant mehr Platz zwischen den Bohrungen.

  9. Sinnfälligerweise liegt dieser Knopf auf der linken Seite rechts vom Manubrium, so daß man diesen, mit dem Daumen der linken Hand, betätigen kann. Auf der rechten Seite befindet sich der Einschaltknopf für das Register links neben dem dazugehörigen Manubrium, gut zu erreichen für den Daumen der rechten Hand.

  10. Ganz abgesehen von den in der Regel äußerst anspruchsvollen Orgelwerken, die ein geteiltes Pedal vorsehen (vor allem in Kompositionen seit den 1950er Jahren u.a.von Dupré, Demessieux, Cochereau, Escaich, Leguay u.a.).

  11. Vorgaben und Konzeption des Spieltischs: Dmitri Grigoriev (Kantor der Erlöserkirche), Peter Ewers (Fachberatung), realisiert durch Tristan F. Heuss.

  12. Die Laden liegen gestürzt im unteren Bereich des Untergehäuses an den Außenseiten und nehmen die großen Pfeifen bis zu einer Länge von 5,20 m auf. In diesen Laden (Winddrücke über 100 mm Wassersäule) ist auch die Tonsteuerung der 12 großen Pfeifen des Bourdon 32‘ (C-H) untergebracht. Die absolut präzise An- und Absprache der großen Pedalregister wird durch Tonventile gewährleistet.

  13. Verpackt in Blaupapier.

  14. vgl. Filmbeitrag „Frischer Wind für Lüdenscheid“ Die Entwicklung und Verwendung des Magazinbalgs nach Alexander Cummings durch Aristide Cavaillé-Coll im französisch-symphonischen Orgelbau von Peter Ewers (Drehbuch, Regie). D 2018 (11 min, digital, Farbe, 25 fps, 1:2,35, Dolby Digital); http://vimeo.com/249880539, abgerufen am 25.3.2019.

  15. vgl. Filmbeitrag „Wie die Orgelpfeifen …“ Aspekte zum Metallpfeifenbau bei Aristide Cavaillé-Coll (1811-1899) von Peter Ewers (Drehbuch, Regie). D 2018 (25 min, digital, Farbe, 25 fps, 1:2,35, Dolby Digital); Physikalische Grundlagen zur Entstehung eines Tons in der Orgelpfeife. Dokumentation des Herstellungsprozesses von Orgelpfeifen (Gießerei, Hobeln, Zuschnitt, Rundieren, Löten, Zusammenbau, Rasterung). Historische Aspekte zum Metallpfeifenbau bei Aristide Cavaillé-Coll (1811-1899); https://vimeo.com/263828032, abgerufen am 25.3.2019.

  16. Siehe auch Intonateur Kilian Gottwald im Filmbeitrag: „Zur Ästhetik des Klangs – Interview mit Kilian Gottwald, Intonateur“ von Peter Ewers (Drehbuch, Regie). D 2018 (14 min, digital, Farbe, 25 fps, 1:2,35, Dolby Digital); https://vimeo.com/296368913, abgerufen am 25.3.2019.

  17. vgl. Jesse Eschbach: Aristide Cavaillé-Coll – Aspekte zu Leben und Werk – vol 1: Dispositionen aller bekannten Instrumente, Verlag Peter Ewers, Paderborn 2006; Maison A. Cavaillé-Coll: Orgues de tous modèles, Facsimile des Verkaufsprospekts zur Weltausstellung Paris, 1889, Verlag Peter Ewers, Paderborn 2016.

  18. Vgl. Filmbeitrag „Bourdon 32‘ nach Aristide Cavaillé-Coll für die Altstadtorgel Lüdenscheid“ von Peter Ewers (Drehbuch, Regie). D 2018 (3 min, digital, Farbe, 25 fps, 1:2,35, Dolby Digital); http://vimeo.com/244911622, abgerufen am 25.3.2019

  19. Cavaillé-Coll hat beide Varianten (Grand-Orgue mit tiefer Mixtur und Récit mit höherer Mixtur oder Grand-Orgue mit höherer Mixtur als die Mixtur des Récit) gebaut. Sehr häufig findet sich für das Grand-Orgue eine Variante, in der die Mixtur relativ hoch beginnt, um dann sehr tief nach unten zu repetieren. Mitunter reichen die Repetition gar bis zum 10 2/3‘ herab. Fast wäre man dem Charme einer tiefliegenden Cavaillé-Coll-Mixtur in Lüdenscheid erlegen, aber für das polyphone Spiel (Buxtehude, Bach etc.) hätte vermutlich die Durchhörbarkeit und Klangentfaltung tieferer Töne im Diskant (h0 – d3) angesichts des vorhandenen Raumangebots gelitten.

  20. Cavaillé-Coll verwendete bis in die tiefen Lagen hinein Metallpfeifen. Bezogen auf die Größe des Kirchenraums in Lüdenscheid baute Baumhoer Subkontraoktave und Kontraoktave in Holz. Die gewünschten weich verschmelzenden Übergänge zwischen Holz- und Metallpfeifen wurden durch Intonateur Kilian Gottwald bereits bei der Mensuration berücksichtigt.