Münster, Ev. Erlöserkirche

Orgel von Patrick Collon (II-38), 1999

Zur Orgel von Patrick Collon (II-38), 1999 in der Erlöserkirche Münster

I. Angaben über das Objekt: Technisches Denkmal: Orgel von 1999 (Patrick Collon, II-38)

48145 Münster, Friedrichstr. 10

Befund: historische Pfeifenorgel mit zwei Manualen

neue Stimmung nach Wiegleb II; nach Ausreinigung und Nachintonation

Im Detail: Wir sahen eine spielfähige Pfeifenorgel mit mechanischer Spiel- und Registertraktur, die für die Erlöserkirche konzipiert und dort 1999 von der Werkstatt Manufacture d’orgues de Bruxelles Patrick Collon errichtet wurde.

Das Instrument befindet sich an der Südwand des in Nord-Südrichtung gelegenen Gotteshauses (Entwurf nach Otto Bartning, 1950: angedeutete Basilika mit Haupt- und Seitenschiffen und polygonaler Apsis, als Holzrahmenkonstruktion bei bis zum Dachansatz ragendem Backsteinmantel, erweiterter Notkirchentyp B) mit einer Länge von ca. 45 m und einer Höhe von 12,00 m auf einer 1950 umgebauten Empore in nach rechts vom Turmvestibül verschobener Stellung.

 

Der Prospekt aus vier Feldern zeigt Pfeifen des Principal 16′ und Principal 8′ des Hauptwerks (Manual II) und des Principal 4′ des Nebenwerks (Manual I). Im Untergeschoß befindet sich das Echowerk (ohne Prospekt) das über einen pfiffigen Mechanismus geöffnet werden kann und den dann direkten Schallanteil auf die Beine des Spielers entläßt und eine erstaunliche Schwellwirkung im Raum zur Folge hat.

Das Pedalgehäuse zu Pedal I und Pedal II befindet sich hinter dem Manualgehäuse auf der Empore.

Um das Pfeifenwerk vor Verstaubung zu schützen, sind an Stelle der sonst üblichen Rahmentüren mit Füllungen an der Collon-Orgel Stoff-Jalousien verbaut, die gleichzeitig den ungehinderten Klangaustritt ermöglichen, die bei einer trockenen Konzertakustik des Raums den häufig anzutreffenden tiefen Frequenzabsorptionen klug entgegenwirkt und den umgebenden Raum (Turmwand und Rückwand der Kirche) zur Klangabstrahlung einbezieht. Die Orgel klingt im Raum über den gesamten Frequenzgang hin denn auch ausgewogen harmonisch, grundtönig und frisch.

Erlöserkirche Münster, Orgel von Patrick Collon

eingeweiht 12.9.1999

II. Hauptwerk, C – g“‘

I. Nebenwerk, C – g“‘

I. Echo, C – g“‘
mit Windsperrventil

1. Principal 16’

2. Bordun 16’

3. Principal 8’

4. Voce umana 8‘
ab d’

5. Copel 8‘

6. Oktave 4‘

7. Flöte 4‘

8. Quinte 2 2/3‘

9. Oktave 2‘

10. Terz 1 3/5‘

11. Quinte 1 1/3‘

12. Mixtur 4-5 fach

13. Cornet 5 fach

14. Trompette 8‘

15. Bajoncillo /Clarin 4‘ / 8‘

1. Offenflöte 8‘

2. Traversflöte 8’
ab fis0

3. Principal 4‘

4. Nasat 2 2/3‘

5. Flageolet 2 fach

6. Terz 1 1/3‘

7. Mixtur 3 fach

8. Cromorne 8‘

1. Salicional 8‘

2. Unda maris 8’
ab fis0

3. Quintade 8‘
ab c0

4. Fugara 4‘

5. Hautbois 8‘

6. Voix Humaine. 8‘

Pedal I, C – f‘

 

 

1. Subbass 16’

2. Flötenbass 8‘

3. Oktavbass 4’

4. Posaunenbass 16’

5. Clarinbass 4’

Pedal II, gleiche Klaviatur wie Pedal I

6. Bordunbass 32’

C-H 16‘ und 10 2/3‘, ab c0 gedeckt

7. Contrabass 16‘

8. Violonbass 8’

Spielhilfen

mechanische Manualkoppel als Schiebekoppel

II – P (Hauptwerk an Pedal)

I – P (Nebenwerk an Pedal)

Kurze Oktavkoppel für II – Hauptwerk

Windsperrventil für das Echowerk

Öffnungshebel für Gehäuseteil des Echowerks

Nachtigall, Kuckuck, Calcantenglocke

Vom Klang Das Instrument steht vor der Empore ebenerdig und ragt mit seinem Manualprospekt nicht bis an die Kirchendecke heran, was der freien Klangabstrahlung zu gute kommt und auch der Klangverschmelzung mit dem Pedalwerk sehr dienlich ist.

Der Klang ist ausgewogen, grundtönig, in keiner Weise vordergründig, aber dennoch präsent. Durch seine Aufstellung behält das Instrument stets eine kammermusikalische Note und Noblesse, die ihresgleichen in der westfälischen Orgellandschaft sucht.

 

Dieser Klangeindruck gilt für alle zahlreichen Sitzplätze des Hauptschiffes. Das „en chamade“ gebaute Bajoncillo bzw. Clarin schafft beeindruckende kathedrale Weite und ist in seinem Klangvolumen für lyrische Elemente (c.f.-Führungen) wie auch akkordisch mit einer dann satten Gesamtwirkung dem Raum angemessen, niemals plärrig und keineswegs zurückhaltend.

Die Gesamtwirkung dieser großen Orgel ist nachhaltig überzeugend. Man kann der Gemeinde zu diesem gelungenen multikulturellen Wagnis auch 20 Jahre nach der Einweihung nur beglückwünschen.

Den seinerzeitigen Disponenten Winfried Berger (1954-2010) inspirierte die europäische Idee der Vereinigung vielerlei Orgellandschaften (nämlich der Synthese des deutschen, italienischen und französischen Klangbildes) und Patrick Collon setzte dies in seinem Instrument aus einem Guß konzeptionell wie klanggestalterisch wegweisend um.

Auch dem langjährigen Mentor der Kirchenmusik an der Erlöserkirche und dortigem Pfarrer Thomas Thilo liegt diese europäische Idee sehr am Herzen. Aus Gründen der Praktikabilität, hat auf seine Initiative hin die ausführende Orgelbaufirma Orgelbau Fleiter oHG (Inhaber Eberhard Hilse und Stefan Linke; auch Intonation) der vom Erbauer ursprünglich gelegten ungleichstufigen Stimmung (ohne Angabe, mitteltönig?, eher an den Kirchentonarten orientiert) durch eine vorsichtige Festlegung auf eine Stimmung nach Wiegleb (Werkstatthandbuch „Das Werkstattbuch der Kurpfälzischen Orgelmacher Wiegleb“ (Bernd Sulzmann, Documenta Organologica, Bd 6, Kassel 1983, S.47) eine nachgerade behutsame Weiterentwicklung der Klangsprache des mächtigen Instruments durch eine gleichschwebend-temperierte Stimmung ermöglicht.

Name

c

cis

d

dis

e

f

fis

g

gis

a

ais

h

Wiegleb

5.865

-1.955

1.955

1.955

0.000

5.865

-3.910

3.910

0.000

0.000

3.910

-1.955

zugrundegelegte Temperatur

(Abweichungen in cent)

5.9

-2

2

2

0

5,9

-3,9

3.9

0

0

3,9

-2

In der Praxis entfaltet diese gleichschwebend-temperierte Stimmung eine Klangpracht, wie sie der Collon-Orgel gut zu Gesicht steht. Die kirchenmusikalisch häufigsten Tonarten lassen sich bis 3 Vorzeichen sehr gut, bis 4 Vorzeichen befriedigend und ab 5 Vorzeichen und höher eher weniger gut einsetzen. Dafür klingt aber jetzt ein verminderter Dominantseptakkord im Orgelwerk Bachs so wie er gedacht war und die Tonikaakkorde erstrahlen in einem Glanz, daß es eine reine Freude ist.

Die Musik des frühen 20. Jahrhunderts (Vierne, Dupré, Messiaen) ist darstellbar, wenn es sich nicht um weit entlegene Tonarten handelt. Die Akkordfärbungen nach Duruflé oder Tournemire übersteht die jetzt gelegte Stimmung zwar nicht unproblematisch, aber tolerabel.

 

Aus Sicht der Orgelsachverständigung ist das Anlegen einer anderen Stimmung stets ein Wagnis, die aber hier mit einer Erweiterung des bisher möglichen Literaturrepertoires und der ohnehin vorhandenen Begleitfunktionalität (geteilte Züge im Hauptwerk) billigend in Kauf genommen werden kann.

 

Konzept der Orgel Die Orgel sollte „mit einem grundtief ruhendem Plenum, mit herrlichen 8′-Stimmen in den unterschiedlichsten Farben, mit klaren, strahlenden französischen Zungenstimmen und wundervoll silbrig glänzenen Mixturen“ (Berger, 14) erklingen.

Tatsächlich ist das Plenum mit seinem auf 16′-Basis stehenden französischen Plein jeu beeindruckend:

 

Mixtur des Hauptwerks

C

         

1 1/3′

1′

2/3′

1/2′

c0

       

2′

1 1/3′

1′

2/3′

 

f0

     

2 2/3′

2′

1 1/3′

1′

   

cis‘

   

4′

2 2/3′

2′

1 1/3′

     

f‘

 

5 1/3′

4′

2 2/3′

2′

1 1/3′

     

f“

8′

5 1/3′

4′

2 2/3′

2′

       

Dem Erbauer und Disponenten war dabei klar, daß es eine Illusion sei, „vier Orgellandschaften in einer Orgel zum Klingen bringen zu können. (…) Die Erlöserorgel jedoch war nie als Stilkopie gedacht. Aus vielfältigen Anregungen heraus sollte sich etwas völlig Neues entwickeln.“ (Berger, 19)

Für die Orgellandschaft wurde die Orgel von Patrick Collon zu einer mutigen und oft nicht verstandenen Herausforderung für Interpreten und Orgelbauer.

In das Manubrientableau gilt es sich zunächst einmal „hineinzufuchsen“. Erschwerend wirkt da die nicht immer auf den ersten Blick klar zu erfassende Fußlage der zu unterscheidenden gleichen Register (etwa Pricipal 16‘ und Principal 8‘) auf den Manubrienbeschriftungen, weil sie schlicht fehlt. Aber auch das gehört zum Konzept. Die Collon-Orgel verweigert sich dem allzu schnellen Spiel, sondern sie verlangt geradezu nach vertiefter Auseinandersetzung. Der Interpret wird dann reich belohnt, wenn sich ihm in einem zweiten Schritt so die sinnvolle Anordnung etwa der Principale und daneben der Mutationen erschließt.

Die Schiebekoppel arbeitet exakt. Allerdings wollen die mit nur zwei drahtigen Mitnehmern gefertigten Reihen nur bei nicht gezogener Taste in ihre Funktion gebracht werden.

Die während der Abnahme auftretenden Blockagen der vollmechanischen Spieltraktur bei angehängter Traktur gehören in die gleiche Kategorie.

Das Konzertinstrument ist nachgerade empfindlich und man muß sich mit ihm vertraut machen.

 

Nicht nur die lange Liste an hervorragend gearbeiteten und seltener zu findenden Register lesen sich wie das Who-is-Who der konzertant erforderlichen und in der Praxis notwendigen Dispositionskunst.

Wer hat schon einmal eine aus fünf Bälgen bestehende Balganlage nach Dom Bedos (1709-1779) gesehen, die sich von Kalkanten und hilfsweise durch ein elektrisches Gebläse in den Dienst nehmen lassen kann? Herrlich ist das und das muß so mancher Orgelbauer der Manufacture d’Orgue aus Brüssel erst einmal nachmachen.

Dieser Eindruck wird nur durch den größten erhältlichen „Schnelläufer“ (August Laukhuff, Weikersheim) mit nur 14 m3 Schöpfvolumen bei 104 mm Wassersäule (gemessenen 89 mm Wassersäule Winddruck auf der Lade) getrübt, der die große Orgel bei vollgriffigem Spiel nur annähernd mit der kostbaren Fracht zu versorgen in der Lage ist.

Hat Patrick Collon hier gespart? Oder ist er seinem Anliegen nach einem zwar stabilen Wind mit Leben so näher gekommen?

Gerade die mit Aristide Cavaillé-Coll (1811-1899) in den französischen Orgelbau kommenden Parallelogrammbälge nach Cummings bewirken später eine nie zuvor erreichte Stabilität des Winddrucks mit kapazitär enormen Reserven in mächtigen Magazinbälgen. Cavaillé rechnet durchschnittlich mit 1,6 m3 Luftvolumen je Register; zum Vergleich die Erlöserorgel sieht hier leider nur ein Verhältnis von 0,56 vor. Aber diese Windversorgung schied konzeptionell-historisch gesehen für Collon eben aus.

Dennoch hätte ein Langsamläufer zur Winderzeugung mit entsprechendem Volumen jene Stabilität gebracht, die man sich für Spitzenbelastungen manchmal wünschte. Es verwundert daher nicht, wenn der Organist heute davon spricht, daß die Collon-Orgel mit Kalkanten (!) betrieben, „eine Spur mehr Würze“ im Klang mit sich brächte. Aber all das ist Jammern auf hohem Niveau.

Vorschlag der Orgelsachverständigung

 

keine

Empfehlungen der Orgelsachverständigung

 

Die Holzkonstruktion der schönen Bartning-Kirche bedingt scheinbar, daß die währende der Abnahme gemessene Raumfeuchte im Mittel 35 % beträgt. Der Bund Deutscher Orgelbauer (BdO) sieht eine Garantieleistung bis zu einer Grenze von 45 % rF vor, ab 40 % sind Schäden am Holz zu erwarten.

Zwar hat die Collon-Orgel die dauerhafte Trockenheit bislang gut weggesteckt. Man könnte jedoch versuchen, durch „cleveres Lüften“ einem weiteren Austrocknen entgegenzuwirken.

Der Küster wäre gut beraten zunächst zu ermitteln, ob durch Lüften die Raumfeuchte weiter absinkt oder aber den Bereich über 45 % rF zu erreichen in der Lage ist.

Das zu diesem Zweck entwickelte Programm ILE% (Interaktive Lüftungsempfehlung für Kirchen als Android-App von Klaudius Krusch auf Datenbasis des Deutschen Wetterdienst mit gemittelten und ergänzten Einzelwerten) könnte dafür eine Hilfe sein. Die Programmdatei dazu im Anhang des Gutachtens.

Der Abschluß eines Stimm- und Pflegevertrages wird ausdrücklich empfohlen. Die Westfalenweisheit „Von nix kommt nix“ darf auch für die Bewahrung des Kulturerbes der Menschheit gelten: Investieren Sie daher in den Erhalt Ihres kostbaren Instrumentes für nachfolgende Generationen.

Bereits heute wäre das Instrument in der jetzigen Form nur mit einem unverhältnismäßig hohen finanziellen und materiellen Aufwand zu ersetzen.

Die Orgel von Patrick Collon in der Erlöserkirche Münster bleibt auch Erweis einer Haltung für die, alle Grenzen überschreitende, Kunst als Ausdruck menschlicher Freiheit.

Peter Ewers